Wiedereingliederung: Martin Malicki steht lächelnd in T-Shirt und Arbeitshose in einer Fabrikhalle, beide Arme in die Taille gestemmt. Sein rechter Arm ist amputiert. Er trägt eine mechanische Prothese.
Martin Malicki lässt sich trotz seiner Armamputation nicht die Freude am Leben und an der Arbeit nehmen. Sein Arbeitgeber unterstützt ihn dabei.

„Es sind die kleinen Dinge, die das Leben schwer machen.“ Martin Malicki sitzt an seinem Schreibtisch und lächelt. Zahnpasta aus der Tube auf die Bürste drücken? „Einfach die Zahnbürste unter die Achsel klemmen. Aber wie bekommst du das Rasierwasser aus der Flasche auf deine Hand? Und versuch mal auf einen Zettel zu schreiben, ohne ihn festzuhalten.“ Ob man ursprünglich Rechts- oder Linkshänder war, spielt für Armamputierte dabei keine Rolle mehr: „Umschulen geht.“ Viel entscheidender sei, dass die Haltehand fehlt.

Martin Malicki sitzt mit Armprothese am Schreibtisch und bedient die Computermaus mit der linken Hand.
Nach seinem Unfall musste Martin Malicki die Produktionsanlage gegen einen Schreibtisch eintauschen.

Bis zum 2. November 2013 war Martin Malicki Rechtshänder. An diesem Tag betreut der damals 40-Jährige als Multioperator eine Anlage zur Produktion von Fließstoffen bei der Glatfelder Falkenhagen GmbH im brandenburgischen Pritzwalk. „Das war ein super Job für mich“, sagt der gelernte Straßen- und Tiefbauer. Zu seinen Aufgaben gehört damals alles von der Rohstoffversorgung der Anlage bis zur Entnahme der fertigen Produkte.

Malicki will beim Anfahren der Maschine das Material händisch weiterreichen. „Dabei bin ich mit dem rechten Arm zwischen zwei Walzen eingezogen worden.“ Er betätigt den Not-Halt, die Anlage stoppt, der Arm aber steckt fest. Die Walzen haben eine Betriebstemperatur von 180 Grad Celcius. Es dauert zwölf Minuten, bis Malicki befreit werden kann: „Ich habe zuschauen müssen, wie ich langsam durchgebraten wurde.“ Druck und Hitze zerstören das Gewebe in seinem Arm bis auf die Knochen. Ein Rettungshubschrauber fliegt Malicki ins BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin.

Martin Malickis Geschichte im Video:


Ein langer Weg zurück

„Als ich aus dem Koma aufgewacht bin, war die Welt für mich zu Ende“, erinnert sich Malicki. „Die erste Zeit war echt krass.“ Vor seinem Unfall trainierte er als Bodybuilder und fuhr mit 18 anderen „Verrückten“ – so sagt er es – in Wittenberg Drachenboot. Seine damals 14-jährige Tochter gab dem alleinerziehenden Vater in der Zeit nach der Operation Kraft. „Die war echt eine große Hilfe.“

Martin Malicki und Mario Herrmann gehen nebeneinander eine Fabrikhalle entlang. Herr Herrmann (links) trägt eine gelbe Sicherheitsweste.
Als Sachbearbeiter Facility arbeitet Martin Malicki eng mit dem Teamleiter Logistik Mario Herrmann (links) zusammen.

Malicki musste bis heute 15 Operationen überstehen. Sein Arm ist oberhalb des Ellenbogens amputiert. Der Stumpf wurde mit Haut von seinem eigenen Oberschenkel abgedeckt. Es folgten mehrere Erweiterte Ambulante Physiotherapien (EAP) zum Muskelaufbau und Schutz der Wirbelsäule. In einer sechswöchigen Rehabilitation lernte er den Umgang mit einer myoelektrischen Prothese. Die ersetzt zumindest einen Teil der früheren Funktion von Arm und Hand. „Leider kann ich die Prothese derzeit nicht nutzen“, berichtet Malicki. Der Grund: Aufgrund einer Erkrankung im vergangenen Jahr hat er stark abgenommen – auch am amputierten Stumpf. Dadurch haben sich die Sensorpunkte verschoben, über die er Signale seines Nervensystems an die Prothese übergeben hat. Bis die High-Tech-Prothese an die neuen Gegebenheiten angepasst ist, behilft sich Malicki mit einer rein mechanischen Hilfe ohne elektronische Steuerung. Immerhin verfügt sie über diverse Anbauteile für verschiedene Aufgaben.

Elf Monate nach seinem Unfall hatte er seinen ersten Arbeitstag – beim alten Unternehmen, aber in neuer Funktion.

Neue Aufgaben

Als Sachbearbeiter Facility kümmert sich Malicki heute um Ersatzteil- und Rohstoffbeschaffung, recherchiert am Computer Angebote und Preise – auch wenn „Büro früher nicht so mein Ding war“. Zu seinen Aufgaben gehört auch das Abfallmanagement. Jeden Morgen kontrolliert er den Füllstand der zahlreichen Container auf dem Werksgelände und sorgt dafür, dass sie rechtzeitig geleert werden.

Martin Malicki spricht in einer Werkshalle mit einem Mann in einem Gabelstapler. Er trägt am rechten Arm eine mechanische Prothese.
Auf seinem Weg durchs Lager stimmt sich Martin Malicki auch mit Staplerfahrer Axel Schumacher ab.

Für seinen Arbeitgeber war gleich nach dem Unfall klar, dass er weiterbeschäftigt wird – in welcher Funktion auch immer. „Als Unternehmen haben wir eine soziale Verantwortung und daher alles dafür getan, dass Herr Malicki nach seiner Rückkehr einen Arbeitsplatz hat – auch wenn es nicht mehr der alte war“, sagt Jana Bauer, Personalreferentin und Inklusionsbeauftragte am Standort Pritzwalk. Daher gab es ein Wiedereingliederungsprogramm in Absprache mit dem Betriebsarzt und der BG ETEM.

Martin Malicki spricht in einer Werkshalle mit dem Prozessmechaniker Ralf Kaczinski.
Prozessmechaniker Ralf Kaczinski ist Ansprechpartner für Reparaturen.

Für Martin Malicki war das ein wichtiger Rückhalt. „Ich hatte einen Mitpatienten, dessen erster Brief vom Arbeitgeber war die Kündigung“, erzählt er. Glatfelder dagegen habe ganz anders reagiert. Die Anlage, an der der Unfall geschah, wurde für zwei Wochen heruntergefahren. Alle Kollegen, die Zeuge des Geschehens geworden waren, erhielten psychologische Betreuung. Und wer wollte, konnte Malicki im Unfallkrankenhaus in Berlin besuchen. Dafür stellte die Firma einen Leihwagen zur Verfügung. „Der Kontakt ist nie abgerissen“, stellt Malicki fest.

Auf Augenhöhe

„Wenn du mit nur noch einem Arm im Krankenhaus liegst, kommen jeden Tag Ärzte und erzählen dir eine ganze Menge – aber die haben noch beide Flügel.“ Martin Malicki bringt auf den Punkt, was viele Arm- oder Beinamputierte über gutgemeinte Ratschläge von Außenstehenden denken: „Die wissen einfach nicht, wie sich das anfühlt.“

Dafür gibt es seit dem Jahr 2010 im Unfallkrankenhaus Berlin die sogenannten Peers. Die Idee stammt ursprünglich aus den USA: Peers sind Menschen, die selbst eine Amputation hinter sich haben und mit frisch amputierten Patienten auf Augenhöhe sprechen – natürlich nur, wenn diese das wollen. Malicki wurde von einer seiner Ärztinnen auf diese Möglichkeit angesprochen. Und er wollte reden. „Meine Gesprächspartnerin war unter eine Straßenbahn geraten und hatte einen Arm und ein Bein verloren. Die wusste, wovon sie spricht“, erinnert sich Malicki.

Seit einigen Jahren steht er selbst als Freiwilliger für andere Patientinnen und Patienten zur Verfügung. Peers werden dafür geschult und bilden sich regelmäßig fort. Zwei- bis dreimal im Jahr fährt Malicki zu Gesprächen in die Klinik nach Berlin, „wenn Betroffene es wünschen.“ Er engagiert sich auch im Betrieb. Als Schwerbehindertenvertreter bringt er seine Erfahrungen in den Betriebsrat ein. Das Unternehmen hat zudem Konsequenzen aus dem Unfall gezogen. „Das war wie ein Weckruf für den Arbeitsschutz“, sagt er. Die Regeln an der Anlage wurden strenger. Was früher von Hand gemacht wurde, darf heute nur noch mit Pressluft passieren. „Insgesamt ist der Arbeitsschutz noch weiter in den Vordergrund gerückt“, bestätigt auch Jana Bauer.

Aus Schwächen Stärke gewinnen

Trotz permanenter Schmerzen arbeitet Malicki 30 Stunden in der Woche. Zusätzlich bekommt er eine Verletztenrente von der BG ETEM. „Schmerzen hast du 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche“, fasst er trocken zusammen. Auf einer Skala von eins bis zehn verortet er deren Intensität bei sechs oder sieben. „Die Phantom-Hand fühlt sich an, als würdest du ständig in Brennnesseln fassen.“ Darüber hinaus hat er wie viele Amputierte Probleme mit dem Rücken. Der Grund: Der fehlende Arm führt zu einem Ungleichgewicht in der Muskulatur. Daher muss er zweimal wöchentlich zur Physiotherapie. Seine Therapeutin vor Ort hat sich eigens weitergebildet, weil sie zuvor keine Erfahrung in der Behandlung Amputierter hatte. Und der Arbeitgeber gibt ihm dafür frei, ohne dass er die Zeit nacharbeiten muss.

Bis heute hat Malicki auch mit den psychischen Folgen des Unfalls zu kämpfen – trotz einer psychosomatischen Rehabilitation. Eine Konsequenz seiner posttraumatischen Belastungsstörung ist unter anderem, dass er die Halle, in der der Unfall geschah, nicht mehr betritt. Die Gefahr eines Flashbacks ist zu groß. Das ist schon einmal passiert. „Da war wieder der Geruch, das Hitzegefühl, die Angst – das zieht dir die Füße weg.“

Martin Malicki hat gelernt, auch damit umzugehen. Sein Motto: „Steh zu deinen Schwächen, denn dadurch wirst du stark.“

 

Michael Krause